„Okay, setz Dich hin und nimm die Plattenhülle in die Hand. Schau Dir das Bild an, sobald der Song läuft. Bereit? Los geht's!“ Das Riff von „Let it loose“ ist wie eine Stahlbürste, die in den Gehörgang gestossen wird. Ich kann es an Thomas' Gesichtsausdruck sehen, welchen Eindruck ihm das macht. „Woah!“, ruft er, das Plattencover der Savage LP mit gestreckten Armen und verkrampften Händen vor sich haltend. Wir lachen beide vor Glück auf, im Einfamilienhaus, das in unmittelbarer Nähe der Psychiatrischen Anstalt liegt, in der Robert Walser einen grossen Teil seines Lebens verbracht hatte.
Thomas ging mit mir zur Schule, nicht in dieselbe Klasse, aber ins Sekundarschulhaus Ebnet in Herisau. Vieles trennte uns, aber für einen kurzen Moment eröffnete die Musik eine gemeinsame Schnittfläche. Thomas kleidete sich wie ein Popper, war schlaksig, grossgewachsen und hatte – warum erinnere ich mich ausgerechnet daran? – auffällig grosse Hände. Als Prokurist verdiente sein Vater genug, sich ein schmuckloses, eigentlich doch recht langweiliges Einfamilienhaus zu leisten, am äussersten Rand des Dorfes gelegen, noch ein wenig weiter draussen als die Klinik. Die Erwartungen des Elternhauses an Thomas waren hoch und ich weiss nicht, wie es mit ihm weitergegangen ist, ob er sie hat erfüllen können. Ende der Achtziger, Anfang der Neunziger habe ich ihn einmal kurz getroffen vor dem „Ozon“ in St. Gallen, einem kleinen Club, dessen Musik und Drogen mich damals nicht interessierten.
Thomas war das, was man heute einen Nerd nennen würde: Picklig war er, proper und doch nachlässig gekleidet, wie ein Jugendlicher, den halbblinde Eltern in Popperkleidung gesteckt hatten. Musikalisch war er weitaus offener als ich, hörte einfach alles, was ihm Spass machte und wusste dieses auch gegen meinen unerbittlichen Spott zu verteidigen, so dass ich irgendwann nachgab. In seinem riesigen, aber sonderbar leeren Zimmer stand ein C64, anfänglich noch ohne externer Speicher. Thomas sass stundenlang davor, gab aus den entsprechenden Magazinen endlose Befehlszeilen in den Rechner ein und wenn er sich dabei nicht vertippt hatte (was nie geschah), rief er mich an und ich radelte den weiten Weg zu ihm, quer durchs ganze, zu gross geratene Dorf, hügelab und danach hügelauf. Unermüdlich spielten wir dann mit dem Game, das der Rechner aus den von Hand eingetippten Zeichenfolgen zum Leben erweckte – solange er in Betrieb war, denn speichern liess sich nichts, das Spiel blieb im Arbeitsspeicher gefangen, geisterte dort umher, solange dieser mit Strom versorgt war. Trotzdem froren die Spiele manchmal ein oder verschwanden ganz einfach vom Bildschirm, bis selbst Thomas, der in irrwitzigem Tempo tippen konnte, das alles zuviel wurde. Er durfte sich eine sogenannte Datasette kaufen, ein Kassettenrekorder, den man an den C64 anstöpseln konnte und der dann die Daten auf Kassette speicherte. Auf diese Weise liessen sich dann auch etwas fortgeschrittenere Games spielen, etwa „Q*bert“ (das mich total überforderte) oder „Defender 64“, ein Ballerspiel.
Demodulation, Basic, RAM, Peripherie, Serialbus – ich verstand von allem nicht das geringste. Die Möglichkeit, mittels eines C64 Computerspiele nach Hause holen zu können, faszinierte mich aber in hohem Masse. Die Möglichkeit, mein Bollwerk weiter auszubauen, musste ich nutzen.